Die Bilder, die kürzlich vom Besuch des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu in Washington zu sehen waren, könnten eine Zeitenwende für den Nahen Osten markieren. Ich nehme an, dass Netanjahu und seine Entourage - von seinen Anhängern in Israel ganz zu schweigen - aufs höchste erfreut waren: Die Ehre, mit der er empfangen wurde, all die Schmeicheleien für ein persönliches und ein kollektives Ego, das nach solchem Lob förmlich giert.

Aber was haben die Palästinenser gesehen? Was haben die jungen Menschen in unseren arabischen Nachbarstaaten gesehen? Vor allem einen Staat Israel, der weiterhin die Welt mit einem Trugbild von Verhandlungswillen narrt, als ob Netanjahus Bedingungen irgendeine Chance für einen lebensfähigen palästinensischen Staat lassen würden.

In seiner Rede hat er das Wort "Frieden" etwa 50 Mal wiederholt, sich aber nicht einmal bemüht, das "Nein" zwischen den Zeilen zu verbergen. Das Nein ging einher mit einem selbstgefälligen Lächeln und einer beunruhigenden Aura der Selbstgewissheit: Nein zu den Grenzen von 1967 als Basis für Verhandlungen; Nein zu Jerusalem als künftiger Hauptstadt beider Staaten, des jüdischen und eines palästinensischen. Netanjahu wird sicherlich weiterhin über den Frieden sprechen und gleichzeitig die Kontrolle der besetzten Gebiete beibehalten. Aber jeder, der sehen kann, stellt fest, dass wirkliche Friedensverhandlungen unter den Bedingungen, die er in Washington nannte, unmöglich sind.

Zweitens sahen die Araber ein naives, abwesendes Amerika, das politischer Sturheit applaudierte und blind war für die beleidigenden Gesten des Gastes. Sie sahen, wie der Kongress jubelte, als Netanjahu Jerusalem für ewig unteilbar erklärte, und besonders applaudierte, als er ausrief, der Friedensprozess sei tot. Sie sahen, wie sich die Vertreter der Vereinigten Staaten verbeugten vor der einzigen Demokratie, welche noch eine andere Nation unterdrückt - dies schon seit fast einem halben Jahrhundert. Kurz: Sie sahen, wie sich die Vereinigten Staaten von Amerika den Emotionen der Vergangenheit hingaben, ohne die Gelegenheiten der Zukunft überhaupt erkennen zu wollen.

Wahrscheinlich jedoch wird diese Zukunft eines beweisen: Die alten Vereinigten Staaten haben den neuen Nahen Osten verloren. Der Kredit, den US-Präsident Barack Obama nach seiner Rede an die arabische Welt in Kairo vor zwei Jahren erhielt, ist heute längst verspielt. Was sollen die Palästinenser über diese Supermacht denken, die angeblich als neutraler Vermittler in diesem Konflikt handelt? Das ist der Moment, in dem es auf Europa ankommt: Es sollte eine Brücke bilden zwischen einem in sich selbst gefangenen, fernen Washington und den erwachenden Menschenmassen des Nahen Ostens.

In diesen Tagen jährt sich die israelische Besetzung des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens zum vierundvierzigsten Mal. In dieser Zeit seit dem
Sechs-Tage-Krieg 1967 hat der Staat Israel ohne Verhandlungen Jerusalem annektiert, Dutzende jüdische Siedlungen bauen lassen, die Sperrmauer zu den Palästinensern hochgezogen und den Gaza-Streifen geräumt. Alle Treffen in Europas Hauptstädten und Zeremonien auf dem Rasen des Weißen Hauses haben es nicht von einseitigen Schritten abgehalten, von denen einige für sich schon tödlich für den Friedensprozess waren.

Haben wir Zeit für weitere Jahrzehnte der Verhandlungen? Haben wir nicht gelernt, dass die tiefe Enttäuschung, die all den bedeutungslosen Gesprächsrunden folgte, tragische Folgen für Israel und die Palästinenser zugleich zeitigen wird?

Auch ich habe, an der Seite vieler bekannter Israelis, an die europäischen Staatsoberhäupter appelliert, den Friedensprozess zu unterstützen - als Zeichen, dass ein demokratisches Israel sich bemüht, das Schlimmste zu verhindern. Heute, nach Jahren des Starrsinns und geistiger Fixierung, ist Netanjahu also bereit zuzugeben, dass Israel wohl nicht alle jüdischen Siedlungen behalten kann. Und wie viele Jahre werden noch vergehen, wie viele Leben wird es noch kosten, bis er zustimmt, endlich einen weiteren Schritt in Richtung des Unausweichlichen zu gehen? Ob früher oder später: Ein Palästinenserstaat wird kommen.

Das israelische Bewusstsein ist, verständlicherweise, in einer großen Notlage. Wir schwanken stets zwischen dem Trauma der Vergangenheit und posttraumatischen Belastungsstörungen. Es fällt uns sehr schwer, jemandem zu vertrauen. Wir sind immer misstrauisch, immer aggressiver, als wir sein müssten. Wir sind noch gelähmt, und deshalb wird die Lösung des Problems nicht aus Israel kommen. Das ist kein politisches Scheitern, sondern eine psychologische Konditionierung unserer Politik. Seit langem haben wir die Gedanken vergessen, die wir selbst einst predigten. Nun aber erscheint es, als ob einige Palästinenser etwas sehr Wichtiges realisiert haben, etwas, was auch das zionistische Projekt früher bestimmt hat: Ziviles Handeln und gewaltlose Proteste können weit mehr ausrichten als ein Krieg. Das sind die politischen Werkzeuge, welche die palästinensische Führung jetzt gewählt hat. Es sind die Mittel, auf die viele tausend junge Palästinenser nun setzen.

Die Strategie der Palästinenser aber, den Aufbau staatlicher Institutionen mit dem Appell nach der Anerkennung durch die Vereinten Nationen zu verbinden, ist keineswegs das Ende aller Friedenshoffnungen. Im Gegenteil. Hier ist der Wind des Wandels zu spüren, der durch den Nahen Osten bläst. Jetzt ist aber überall zu hören, die Palästinenser sollten bloß nicht unilateral handeln, es müsse wieder direkte Verhandlungen mit Israel geben. Das klingt wie der Todeskampf einer politischen Konzeption, deren Zeit vorüber ist. Was ist daran einseitig, wenn ein Volk direkt an die Nationen der Welt appelliert, es anzuerkennen? Gibt es einen würdigeren Weg, politische Unabhängigkeit zu erreichen? Ja, es wird einen Palästinenserstaat geben. Und nur, wenn wir ihn sofort anerkennen, nur dann, wenn wir ihn mit offenen Armen in der Familie der Nationen willkommen heißen, werden wir einmal jenen Tag erleben, an dem zwei Staaten sich das schmale Land zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer in Frieden und guter Nachbarschaft teilen. (Avraham Burg, derStandard.at, 17.06.2011)